#digitalisierung #insurtech #versicherungen

Hat die Lebensversicherung noch eine Zukunft?

Gastautor: Marc Surminski

Seit Jahren wird der Tod der deutschen Lebensversicherung vorhergesagt. Bisher ist sie aber noch ziemlich lebendig. In den letzten beiden Jahren hat sie ihre Beitragseinnahmen trotz der öffentlichen Weltuntergangsstimmung auf neue Rekordhöhen gesteigert. Das Vertrauen vieler deutscher Kunden in die Lebensversicherung ist also offenbar ungebrochen – trotz aller schlechten Nachrichten.

Natürlich sind die Lebensversicherer aber zuletzt unabhängig von den guten Zahlen stark unter Druck geraten: Der Zinsverfall hat ihr klassisches Geschäftsmodell zerstört; die Garantien, die sie aus früheren Zeiten zu bedienen haben, bringen etliche Gesellschaften an die Grenze der Belastbarkeit. Große, namhafte Versicherer sind in den Run-off gegangen, damit die Mutter-Konzerne unbelastet von der Vergangenheit neu im Markt durchstarten können. Und aktuell droht mit einem Politikwechsel nach der Bundestagswahl das Ende der bisherigen staatlich geförderten Produkte wie der Riester-Rente.

In der Not erfindet sich die Branche neu

Die Lebensversicherer haben auf die Zinskrise reagiert – allerdings reichlich spät, weil sich viele zu lange an das alte Geschäftsmodell der Zinsgarantien geklammert haben, die jahrzehntelang ein zentrales Leistungsversprechen der Branche waren. Die Lebensversicherer sind aber jetzt dabei, sich neu zu erfinden und durchlaufen einen radikalen Umwandlungsprozess. Insofern kann man sagen: Die klassische Form der Lebensversicherung hat keine Zukunft – aber die neuen Angebote umso mehr.

Um der Zinsfalle zu entgehen, setzen die Versicherer inzwischen branchenweit auf mehr investmentorientierte Angebote. Und sie fahren die Garantien in ihren Produkten immer weiter herunter. Mittlerweile haben die meisten Unternehmen die 100%-Beitragsgarantie aufgegeben – weil solche Garantien in Zeiten von Null- und Negativzinsen bei der Kapitalanlage überhaupt keine Chance mehr auf eine höhere Rendite lassen.

Unterschiedliche Produktstrategien

Dabei gibt es verschiedene Strategien, um für die Kunden der Lebensversicherung die dringend benötigte Rendite zu erzielen: Entweder über fondsgebundene Policen (mit und ohne Garantie) sowie Indexprodukte, bei denen ein Teil der Beiträge an der Entwicklung von Börsenindizes teilnimmt. Oder über reformierte klassische Produkte, bei denen ein Teil der Beiträge vom Versicherer in renditeträchtigere Anlageformen investiert wird – bei reduzierten Garantien.

Im Kern vieler neuer Angebote steht dabei aber weiter das Sicherungsvermögen der Lebensversicherer. Ist es gut gemanagt, fungiert es wie ein großer Mischfonds, der verschiedenste Bereiche des Kapitalmarktspektrums abdeckt, um trotz der Zinskrise über lange Anlagehorizonte vernünftige Renditen zu erzielen. Damit bleibt das Kapitalanlagemanagement der Lebensversicherer weiter ein entscheidender Erfolgsfaktor.

Tendenziell wird bei vielen neuen Angeboten das Risiko für den renditeträchtigeren Teil der Anlagen aber immer stärker auf den Kunden übertragen. In einer Welt ohne Zinsen gibt es dazu jedoch keine Alternative, wenn man nicht mit einer Null- oder gar Negativrendite „sicher“ für sein Alter vorsorgen will. Rendite ohne Risiko gibt es im Moment einfach nicht.

Eine entscheidende Frage für den künftigen Erfolg der Lebensversicherer ist, wie sie sich mit den neuen Produktformen von der Konkurrenz der Investmentbranche abheben können, die seit Jahren ein riesiges Angebot von Fonds zu allen Spar- und Vorsorgezielen bereithält und in letzter Zeit mit dem Boom der ETF-Produkte eine kostengünstige Variante des Vorsorgesparens ins Zentrum gerückt hat.

Erfolg im Kollektiv und mit biometrischen Risiken

Hier greift ein zentrales Gestaltungsmerkmal der Lebensversicherung, das Banken und Investmentfonds nicht bieten können: das kollektive Geschäftsmodell. Mit dem Sicherungsvermögen können Erträge und Verluste über ein großes Kundenkollektiv (und über die Zeit) ausgeglichen werden. Das verhindert natürlich Spitzenrenditen, die sich in einzelnen Jahren ergeben können – aber es schützt eben auch in Zeiten abstürzender Kapitalmärkte, denen ein individueller Fonds-Investor schutzlos ausgesetzt ist. Wer im Kollektiv für das Alter vorsorgt, kann sich sicherer durch Kapitalmarktturbulenzen bewegen. Diesen Kollektivgedanken sollten die Lebensversicherer gegenüber den Kunden künftig noch stärker in den Vordergrund rücken, weil er tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal ist.

Auch bei der Deckung von biometrischen Risiken hat die Branche ein Alleinstellungsmerkmal. Die Übernahme von Lebensrisiken wie Berufsunfähigkeit oder frühzeitigem Tod bietet nur die Lebensversicherung. Auch die größten Untergangspropheten der Branche machen ihr dieses Geschäft nicht streitig. Und das unerschlossene Geschäftspotenzial etwa in der Berufsunfähigkeitsversicherung ist bislang nur zum Teil ausgeschöpft.

Problemzonen Kosten und Digitalisierung

Um in Zukunft weiter erfolgreich zu sein, muss die Branche für zwei große Probleme eine Lösung finden: Die Kosten müssen deutlich sinken, vor allem im Vertrieb. Unmittelbar damit verknüpft ist die Frage, auf welchen digitalen Wegen die Produkte künftig zum Kunden kommen können. Die Digitalisierung des Lebensversicherungsgeschäftes steht häufig noch weitgehend am Anfang; bislang gibt es hier kaum Erfolgsmodelle, wie künftig in der Masse des Marktes Vorsorgeverträge digital und womöglich ohne Vermittler verkauft werden können.

Der größte Unsicherheitsfaktor für die Zukunft der Branche ist aktuell natürlich die Politik. Niemand weiß, welche Reformen die neue Bundesregierung in der privaten und betrieblichen Altersvorsorge tatsächlich umsetzen wird. Radikale Änderungen sind denkbar, wie etwa die Einführung eines Pflichtsparmodells über einen staatlich organisierten Investmentfonds nach schwedischem Vorbild. In diesem Fall müsste die Branche zeigen, dass ihr kollektives Modell mit entsprechend niedrigen Kosten und starkem Investmentfokus künftig konkurrenzfähig bleibt.